Geistlicher Impuls

„Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.” (Psalm 139,14)

Ich lese diesen Satz aus Psalm 139 und frage mich, wer diesen Satz aus ganzem Herzen beten kann ohne ein kleines „allerdings“. Ich hätte da noch einige Verbesserungsvorschläge. „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin...“ - allerdings wäre ich gerne schlauer, schlanker, schöner, fleißiger, ohne Migräne und Depressionen. Auch, dass jetzt, wo sich im Kopf Fragen und Zusammenhänge des Lebens geklärt haben, unterhalb des Kopfes öfter mal alles weh tut, finde ich nicht so wunderbar.

Es ist fast schon ein Mantra in unserer Gesellschaft, sich selbstkritisch zu betrachten, sich zu optimieren und dabei nicht nachzulassen. Wir sind leistungs- und gesundheitsorientiert. Daran verdienen viele Unternehmen viel Geld, und es werden gerne dafür große Summen ausgegeben. Ohne Frage ist es wunderbar, wenn man gesund und kraftvoll, ohne Schmerzen und mit wachen fünf Sinnen leben kann. Natürlich würden wir auch dann noch etwas zu kritisieren finden, aber man will ja nicht undankbar sein. Es ist sehr sinnvoll, etwas für die Gesundheit und Funktion unseres Körpers zu tun. Es ist ein absolutes Privileg, dass wir die Möglichkeiten dazu haben, uns gesund zu ernähren und unseren Körper zu stärken. Problematisch wird es dann, wenn wir den gesunden und fitten Menschen zur Norm machen, an der alle anderen gemessen werden. Der Glaube daran, dass wir diesem Idealbild entsprechen sollten, um „normal“ oder auch besser noch als normal zu sein, entfremdet den Menschen von sich selbst und von Gott.

Wir sind von Gott geschaffen als Verletzliche. Wir sind geschaffen mit einem Leib, der wirklich ein Wunder ist, und zugleich als ein Teil der Schöpfung, die vergänglich ist. Die bedrohliche Seite unserer Verletzlichkeit und das Unverfügbare, was darin liegt, machen Angst: Angst vor Schmerzen, vor dem Verlust von Unabhängigkeit, dem Verlust der Leistungskraft, Angst, nicht mehr funktionieren zu können. Die allergrößten Anstrengungen können einen Menschen nicht aus der Zerbrechlichkeit seines Lebens herausbringen. Hilfreich ist eher ein Nachdenken darüber, was für uns zu einem gelungenen Leben gehört, wo wir die Fülle der Liebe Gottes erfahren und wie wir diesen wunderbaren Leib lieben können mit all seinen Macken und Schwächen. Es ist ganz wunderbar, dass gerade ein Teil der jungen Generation, besonders junge Frauen, entschlossen gegen das „bodyshaming“ vorgehen, also der Scham über den eigenen Körper. Denn sie haben erkannt, dass sie sich nicht von anderen einreden lassen wollen, was gesund und schön ist und sich auch nicht ihre Lebensfreude und Lebenskraft nehmen lassen wollen.

Ohne Frage ist die Erfahrung schwerer oder chronischer Erkrankung eine große Last. Der Verlust von Fähigkeiten, den Alltag zu bewältigen, ist für unser Selbstwertgefühl erschütternd. Chronische Schmerzen können zur sozialen Isolation führen, die ständige Angst, ob der Krebs wiederkommt, ist ein Damoklesschwert über dem Leben. Diese Erfahrungen sind Teil unseres Geschöpfseins. Als Gott die Welt schuf, ist die Nacht ein Teil der Schöpfung geblieben und ist nicht schön zu reden.

Die Verletzlichkeit der gesamten Schöpfung führt uns auf der anderen Seite zu der Erfahrung, aufeinander angewiesen zu sein. Sie zwingt uns letztendlich in die Notwendigkeit, miteinander das Leben, unseren Schutz und unsere Sorge füreinander zu gestalten. Unsere Liebe bekommt dabei die Möglichkeit, sich kreativ auszutoben, zu wachsen und somit den Menschen zu seiner schönsten Aufgabe zu verführen: ein gutes Leben für alle zu schaffen. Danke Gott, dass wir so wunderbar gemacht sind! Vielleicht kann dieser Gedanke an unsere eigentliche Bestimmung -   nämlich die Liebe Gottes in dieser Welt zu leben - dabei helfen, durchzuhalten im Tun, in der Hoffnung und im Gebet für alle, deren Leib und Leben gerade zerstört wird.

Ihre Dagmar Müller
Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe im Rheinland e.V.

(Andacht in den Mitteilungen 2022/2 „Im Einklang mit Körper, Geist und Seele“)

>> PDF-Datei zur Andacht