Geistlicher Impuls August 2023

Ebbe und Flut - Gezeitenwende

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (Psalm 31,9b)

Sommer am Meer. Der Blick schweift in die Weite. Der Horizont verschmilzt mit dem blauen Himmel. Ein paar Wolken ziehen vorbei, Möwen kreischen. Die Sonne scheint, die Wellen rauschen - und vor einem nur die endlose Weite des Meeres. Dieser Blick tut gut – immer wieder neu.
Das Herz weitet sich und man fühlt sich unendlich beschenkt. Die Gedanken kommen zur Ruhe. Sie kreisen nicht mehr ständig um anstehende Aufgaben und Pflichten oder um eigene Sorgen und Belastungen. Der frische Seewind pustet über den Deich, pustet den Kopf frei und lässt einen frei atmen. Mit einem neuen Gefühl von Lebendigkeit können wir wieder durchatmen und den Blick aus der Enge des Alltags auf etwas unendlich viel Größeres richten. Dann spüren wir, dass jede und jeder Teil von Gottes großer Schöpfung ist. Thomas Mann hat es einmal so formuliert: „Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit“.

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ heißt es in Psalm 31. Der Mensch, der dort betet, sieht gerade alles andere als einen weiten Raum vor sich. Im Gegenteil: Sein Lebensraum ist ziemlich eng. Der Psalm erzählt von Feinden, die ihn verfolgen, von Fallen, die sie ihm stellen. Er erzählt von Menschen, die ihn verspotten, von Nachbarn und Freunden, denen er zur Last geworden ist. In dieser Situation der existentiellen Enge weiß der Beter oder die Beterin aber dennoch um einen weiten Raum. Diese Weite findet er oder sie nicht in sich selbst, sondern bei Gott. Dahinter verbirgt sich die Erfahrung und die Hoffnung: Wer sich Gott zuwendet, bekommt wieder Boden unter den Füßen und kann zur Ruhe kommen. So wird „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ ein Wort zum Durchatmen. Wie ein frischer Wind bringt es Licht und Hoffnung in unser Leben, egal wie schwierig und unabsehbar es gerade ist. Denn bei Gott ist alles gut aufgehoben: Enge und Weite, Schweres und Schönes, Sorgen und Freude, Angst und Zuversicht, Regen und Sonnenschein, Ebbe und Flut.

An der Nordsee bestimmen die Gezeiten das Leben. Der Alltag ist geprägt durch den Gleichklang von Ebbe und Flut, durch das Kommen und Gehen des Wassers.
Ebbe und Flut - das ist auch ein wunderbares Bild für die Gezeiten des Lebens. Wir alle erleben gute und schwierige Zeiten. Das Leben ist ein ewiges Kommen und Gehen. Schöne Erlebnisse, glückliche Momente und fröhliche Augenblicke wechseln sich ab mit Erfahrungen von Enttäuschung, Verlust, Krankheit oder Einsamkeit, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen können. Aber auch die Krisen und Herausforderungen unserer Zeit sind beunruhigend: angefangen bei den Auswirkungen des Klimawandels über die Pandemie bis hin zum Krieg in der Ukraine, der Energiekrise und den zunehmenden sozialen Spannungen. Wir haben manchmal Angst, so wie der Beter des 31. Psalms, aber wir dürfen auch mit ihm beten: „Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: „Du bist mein Gott!“ (Ps 31,15) Denn wie auf jede Ebbe immer die Flut folgt, so können wir uns auf Gott verlassen, dass er die Zeiten wendet.

In den Gezeiten des Lebens ist Gott schon immer da und begleitet uns. Er stellt das, was uns einengt und die Luft zum Atmen nimmt, in seine Weite. Und er weitet auch unser Herz und unseren Blick. Vielleicht entdecken wir dann in Zeiten der Ebbe sogar etwas, was sonst unsichtbar ist und erst jetzt zum Vorschein kommt: Wattwürmer zum Beispiel oder eine Strandkrabbe, Wattpflanzen oder eine tiefliegende Herzmuschel. Genauso können wir vermutlich auch in schwierigen Situationen unseres Lebens bei genauem Hinschauen das eine oder andere entdecken, was wir vorher gar nicht so wahrgenommen haben: den tröstenden Anruf einer Freundin, das freundliche Lächeln einer Nachbarin oder den guten Zusammenhalt in der Frauenhilfe...

In der Gewissheit, in Gottes unendlicher Liebe geborgen zu sein, dürfen wir uns in allem Kommen und Gehen, in allen Krisen und Veränderungen immer wieder voll Vertrauen in die Weite Gottes stellen und mit unseren Vorfahren im Glauben  beten: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“.

Christine Kucharski
(in: Evangelische Frauenhilfe im Rheinland (Hrsg.), Andachten 2023. Zeitenwende(n). 24 Andachten durch das Kirchenjahr 2022 / 2023)

 

Gebet - Psalm 31 in einer modernen Übertragung

Gott, auf Dich vertraue ich.
Bei Dir suche ich Halt.

Wenn rings um mich das Meer tobt,
bist Du mein Fels.

Wenn ich vom Sturm überrascht werde,
bist Du meine feste Burg.

Gott, auf Dich verlasse ich mich.
Leite mich, wenn es dunkel um mich ist,
führe mich, wenn ich keinen Weg mehr sehe.

Wie in ein Netz verstrickt, das plötzlich über mich geworfen wurde,
so fühle ich mich.
Hilf mir heraus, denn ich habe Angst.

Wenn Einsamkeit mich überfällt und ich mich gefangen fühle:
Du bist doch da.

Du bist meine Stärke.
Ich vertraue darauf: Du lässt mich nicht fallen.

In Deine Hände befehle ich meinen Geist.
Du holst mich heraus aus meiner Machtlosigkeit.

Du stellst meine Füße auf weiten Raum.
Amen.
 

Liedvorschläge

Meine engen Grenzen (EG 600)
Gott gab uns Atem (EG 432)
Gottes Wort ist wie Licht (EG 591)