„Versäume keinen fröhlichen Tag, und lass dir die Freuden nicht entgehen, die dir beschieden sind.“ (Jesus Sirach 14, 14)
Wer am 11.09.2001 gegen 15 Uhr die große Halle des Duisburger Bahnhofs betrat, sah auf einem riesigen Bildschirm einen bizarren Film ablaufen. „James Bond oder was? Verrückt!“ sagte einer der vielen, die wie gebannt auf den Schirm starrten.
In Endlosschleife flogen Flugzeuge in Hochhaustürme, bohrten sich in Fassaden und explodierten. Auf der Rückfahrt im Autoradio kam die Aufklärung: Das war kein James Bond. Das war die grausige Wirklichkeit von Terroranschlägen auf das World Trade Center, die sich gerade eben in New York ereignet hatten.
Unter den zahllosen Kommentaren dieser Tage war zu hören: „Unsere Welt wird nie wieder dieselbe sein“ – übertrieben dramatisch oder doch vielleicht eher prophetisch?
Die Kriege, die sich anschlossen in Afghanistan, im Nahen Osten, die Terroranschläge überall auf der Welt, die vielen Flüchtlinge, die nach Europa kamen – all das hat unsere Welt so stark verändert, dass tatsächlich vieles dramatisch anders wurde.
„September eleven“ oder auch 9/11 wurde zur Chiffre für eine Zeitenwende. Bis heute wissen alle sofort, was damit gemeint ist. Selbst im Englischkurs wurde sie zum beliebten Aufhänger, um Schüler*innen die Verlaufsform beizubringen. Auf die Frage „What were you doing on 9/11 when …?“ [„Was habt ihr am 11.9. gemacht, als…?“] , wussten die meisten sofort, womit sie gerade beschäftigt gewesen waren, als sich die Flugzeuge in das World Trade Center bohrten. Die einen waren auf der Autobahn, andere beim Einkaufen und manche betraten gerade eine Bahnhofshalle. Die Erinnerungen an diesen Augenblick waren erstaunlich präsent.
9/11 war der Moment, in dem wir aus der Gemächlichkeit einer politisch und gesellschaftlich eher beschaulichen Phase gerissen wurden. Unser öffentliches und privates Leben hat sich seither deutlich verändert. Wir leben mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen im Alltag, mit Datensammlungen, Überwachungskameras. Unsere Armee kämpft in anderen Erdteilen … Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden.
Am 9. September verlor unser Leben an Sicherheit und Freiheit. Die Zeit davor erscheint im Rückblick als so viel ruhiger und friedlicher. Wenn wir uns dessen damals doch nur bewusst gewesen wären!
Zeitenwenden wie 9/11 gibt es aber nicht nur auf der großen Weltbühne, sie kommen auch im Leben einzelner Menschen vor und sind für sie nicht minder dramatisch.
In einer Frauengruppe erzählte eine Teilnehmerin vom Tag, an dem ihr Mann starb. Im Rückblick, so meinte sie, sei das der Tag gewesen, an dem sie aus ihrem kleinen Paradies gerissen wurde. Und im Rückblick sei ihr auch klar geworden, dass zu diesem Paradies gerade die kleinen, manchmal durchaus lästigen Dinge des Alltags gehörten. „Wenn ich doch nur noch die Socken meines Mannes sortieren oder seine Hemden bügeln müsste!“
Das war das Stichwort für andere in der Gruppe, von ihren persönlichen Zeitenwenden zu erzählen und wie sehr sie sich oft gerade nach den Alltäglichkeiten der Zeit davor zurücksehnten, nach der vertrauten Routine. Wie groß nur wird diese Sehnsucht bei den Kriegsflüchtlingen unserer Tage sein!
Zeitenwenden lehren uns, die Alltäglichkeiten unserer Gegenwart zu schätzen. Es kann sein, dass diese schon morgen die Freiheiten, die Sicherheiten, vielleicht sogar die Freuden von gestern sein werden, unser kleines Paradies, nach dem wir uns zurücksehnen, weshalb uns der Verfasser des Sirachbuches eindringlich ermahnt: „Versäume keinen fröhlichen Tag, und lass dir die Freuden nicht entgehen, die dir beschieden sind.“ (Jesus Sirach 14,14)
Brigitta Müller-Osenberg
(in: Evangelische Frauenhilfe im Rheinland (Hrsg.), Andachten 2023. Zeitenwende(n). 24 Andachten durch das Kirchenjahr 2022 / 2023)
Manchmal freue ich mich über jede Kleinigkeit.
Manchmal fehlt mir der Blick dafür,
weil ich in meinen Sorgen feststecke.
Manchmal freue ich mich über einen Sonnenaufgang.
Manchmal fürchte ich mich vor jedem neuen Tag.
Manchmal sehe ich nur Leiden und Tod.
Manchmal glaube ich an Gott.
Manchmal ist er mir unendlich fern.
Hilf meinem Unglauben, Gott!
(nach Hanne Köhler aus „Du Gott, Freundin der Menschen“ S. 56, Kreuz-Verlag)
Liedvorschläge
Wer nur den lieben Gott lässt walten (EG 369, 1.3.4)
Wir haben Gottes Spuren festgestellt (EG 648)
Was macht, dass ich so fröhlich bin (Lieder zwischen Himmel und Erde Nr. 26)