Ob in Grimms Märchen, beim Tatort oder beim Bergdoktor – überall lesen, hören und sehen wir Geschichten über schwierige Familien. In ihnen spielen Eifersucht, Neid und Habgier große Rollen und natürlich die Nähe, die einem die Familie oder Sippe aufzwingt. Man kann nicht mit und man kann nicht ohne. Dann kommen noch Stiefmütter, rechthaberische Schwiegerväter oder Ex-Partner hinzu und andere komplizierte Beziehungsstrukturen. Auch die Bibel berichtet von vielen Familiendramen, angefangen mit der ersten Familie, in der ein Bruder den anderen umbringt. Die Bibel berichtet von Patchworkfamilien und Vielehen, sie berichtet von Inzest und Lüge und Betrug auch in den Familien. Josef wird sogar von seinen Brüdern verkauft. Die Menschen waren existentiell aufeinander angewiesen und wählten zuweilen radikale Mittel, einander loszuwerden. Zu viel Nähe ist auch schwierig.
In eine schwierige Sippschaft blicken wir auch beim Fall von Hagar, aus deren Mund der Satz kommt, den wir als Jahreslosung 2023 kennen: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Sie ist Sklavin bei Abraham und Sara, der Pharao in Ägypten hat sie den beiden geschenkt. Sie lebt ein Leben ohne Recht auf Freiheit, ohne Chance auf Selbstbestimmung. Sie ist Leibeigene. Da Abraham und Sara keine Kinder bekommen, obwohl Gott selbst es ihnen verheißen hatte, schickt Sara ihren Mann zur Sklavin Hagar, um sie zu schwängern. Eine erzwungene Leihmutterschaft ist das, die fruchtbare junge Frau wird nicht gefragt. Und sie wird tatsächlich schwanger und versucht den Moment des Vorteils gegenüber der alten Sara für sich auszunutzen und Sara zu demütigen. Es wird erzählt, dass die beiden Frauen sich streiten, statt sich zu solidarisieren und für beide einen Vorteil zu suchen. Und Abraham gibt das Bild eines alten, schwachen Mannes, der sich zu einer Sklavin schicken lässt und im folgenden Drama keine Verantwortung übernimmt. Sara soll doch mit ihrer Sklavin tun, was sie will, meint er, und die Gewalt zwischen den Frauen eskaliert. Es wird so schlimm, dass Hagar die einzig freie Entscheidung, die sie treffen kann, trifft. Sie flieht, denn sie will lieber sterben als weiter in dieser Sippe bleiben. Sie läuft in die Wüste und sie weiß, dass das ihr Todesurteil sein kann. Die Wüste ist gefährlich ohne den Schutz der Sippe. Sowohl die Hitze am Tag und die Kälte der Nacht als auch Wassermangel und Verlust der Orientierung sind Lebensgefahren. Aber es ist die einzige freie Entscheidung, die sie treffen kann.
Ein Brunnen in der Wüste wird zum Ort ihrer Gottesbegegnung. Ein Engel kommt als Bote Gottes zu ihr und spricht zu ihr. Hagar ist der erste Mensch, dem Gott einen Engel sendet. Der Engel verkündet ihr, dass Gott ihren Hilferuf gehört hat und verheißt ihr einen Sohn. (Wem fällt da nicht noch eine andere Geschichte ein, die wir aus dem Evangelium kennen?). Sie soll den Sohn Ismael nennen, denn das bedeutet „Gott hat gehört“. Das ist der Moment, in dem Hagar Gott einen Namen gibt: El-Roi, das bedeutet „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Sie, die als Sklavin nichts ist, nur Eigentum eines anderen Menschen. Sie ist eine Frau ohne Menschenrechte, ohne Freiheit, ohne sexuelle Selbstbestimmung. Aber Gott sieht sie, für Gott ist sie wichtig. In der Wüste, die ihren Tod bedeuten kann, begegnet sie Gott. Die Wüste ist ein Ort der Gottesbegegnung, der Versuchung, der Wunder, des Todes und der Heilung. Immer wieder geraten in den biblischen Geschichten Menschen in Wüstennot. In der Wüste wird es existentiell, ein Ort des Durstes, der Orientierungslosigkeit und der Versuchung. Und doch auch ein Ort, an dem Gott erscheint und sieht. Dich sieht! Wer einmal in der Wüste war, weiß um die Faszination und die Bedrohlichkeit.
Hagar begegnet Gott. Sie erhält die Gewissheit, dass sie als Mensch wichtig ist für diese Welt und für ihn. Dass Gott sie begleitet und sie segnen wird.
Und Gott schickt sie wieder zu Abraham und Sara. Aus der Wüste schickt er sie wieder ins Leben. Es ist kein Wunder geschehen, dass sie plötzlich frei und selbstbestimmt leben kann. Es ist kein Prinz vorbeigekommen und hat sie gerettet. Gott weist ihr den Weg zurück ins alte Leben. Das mag ein bisschen enttäuschend sein an dieser Geschichte. Hagars Happy End ist, dass sie sich von nun an gesehen weiß, dass sie sich an die Gewissheit hält, dass ihr Leben wichtig und gewollt ist. Sie hat eine Aufgabe und sie hat eine Existenzberechtigung. Ihr Leben ist weiterhin das Leben als Sklavin, daran wird sich nichts ändern. Sie wird sich einige Jahre später noch einmal in der Wüste wiederfinden, weil Sara sie und ihren Sohn in die Wüste jagt. Doch noch einmal wird Gott sie hören, sie retten und ihr eine Zukunft geben.
Es ist eine Geschichte mit Ecken und Kanten und niemand wirkt so richtig sympathisch. Es ist eine Geschichte mitten aus dem rauen Nomadenleben, wo es tagein tagaus ums Überleben geht, und dazu gehören Kinder, aber keine Sentimentalitäten. Und mitten in dieser Geschichte taucht an unerwarteter Stelle Gott auf. Er taucht auf, als eine Ägypterin, eine Sklavin, aus Verzweiflung in die Wüste rennt. Er taucht diesmal nicht beim Erzvater Abraham auf, sondern gibt dieser Frau Lebenskraft, überzeugt sie mit seiner Gegenwart zum Weiterleben. Und sie wird der erste Mensch, dem ein Engel erscheint und die erste Theologin, weil sie Gott einen Namen gibt.
Dieser Name ist unsere Jahreslosung 2023: „El-Roi! Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Die Erfahrung, die hinter diesem Namen steht, ist die Gegenwart Gottes in der Wüste, in der tiefsten Tiefe der Verzweiflung, dem Wunsch, einfach tot zu sein. Dann sieht uns Gott. Im Leid, im Krieg und in Gewalterfahrungen, in Krankheit und bis in den Tod. Amen
Ihre Dagmar Müller
Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe im Rheinland e.V.